Wie es wirklich ist, das Tourette-Syndrom zu haben

Hannover – Das Tourette-Syndrom gehört zu den eher seltenen Krankheiten: Je nach Studie sind 0,4 bis 0,7 Prozent der Bevölkerung davon betroffen. Und doch ist es sehr bekannt – allerdings wissen die wenigsten Menschen wirklich, was sich hinter dem Namen verbirgt.

«Das mediale Bild der Krankheit ist stark geprägt von den Extremfällen», sagt Professorin Kirsten Müller-Vahl. Sie leitet in Hannover die größte Ambulanz in ganz Deutschland für Patienten mit dem Tourette-Syndrom.

Tics sind vielfältig

Um die Diagnose Tourette stellen zu können, müssten Patienten über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr motorische Tics und mindestens einen vokalen Tic haben. Dazu gehören nicht nur Schimpfwörter, sondern auch Räuspern, Hüsteln, Fiepen und andere unkontrollierbare Laute. Auch die Ausprägung der einzelnen Tics könne variieren.

«Viele sind erstmal irritiert, wenn ich schnaube oder mit dem Kopf zucke. Aber die wenigsten raffen, dass es Tourette ist», sagt Vanessa Arnold. Die 22-Jährige aus Schneeberg im Erzgebirge bekam mit sechs Jahren die Diagnose gestellt. «In der Öffentlichkeit kann ich die Tics meistens unbewusst gut unterdrücken. Wenn ich dann aber nach Hause komme, entlädt sich alles. Manchmal kann ich sogar nicht einschlafen, weil mich die Tics wachhalten.»

Außenstehende sind verunsichert

Vanessa Arnold würde sich wünschen, dass mehr Menschen ihre Tics direkt richtig einordnen könnten. Sie habe oft das Gefühl, sich outen oder rechtfertigen zu müssen. «Vielen muss ich erklären, was ein Tic überhaupt ist und dass der nicht kontrollierbar ist. Ich vergleiche es immer mit dem Niesen, das ist auch schwer zu unterdrücken.»

Jedoch ist es für Außenstehende auch nicht immer einfach, einen Tic als solchen zu erkennen. Beispielsweise hatte Vanessa Arnold eine Zeit lang den Tic, Passanten wahllos den Mittelfinger zu zeigen. «Das war nicht so cool», sagt sie. «Ich habe manchmal das Gefühl, mein Tourette versucht das größtmögliche Arschloch zu sein.»

Unklare Ursachen

Woher kommen die Tics? Tourette gilt als neurologisch-psychiatrische Krankheit mit organischer Ursache, da sie das Gehirn betrifft, sagt Müller-Vahl. Die genauen Hintergründe seien aber noch unbekannt. «Man weiß, dass der Stoffwechsel im Gehirn bei Erkrankten verändert ist, aber nicht warum.» Stress könne die Symptome stark verschlimmern.

«Ich glaube, vielen ist einfach nicht bewusst, dass Tourette eine ernsthafte Krankheit ist, die das eigene Leben stark einschränken kann», sagt Arnold. «Ich kann nicht Autofahren, weil ich Angst habe, dass ich einen heftigen Tic bekomme und einen Unfall baue.» In ihrer Heimat, einer ländlichen Gegend, ist das ein echtes Problem.

Schwierige Jobsuche und unsichtbare Schäden

Auch die Berufswahl wird beeinflusst: «Ich kann nicht jeden Beruf lernen. Egal ob Karriere in der Chirurgie oder Jobs wie Kellnern, ich bin immer eingeschränkt. Deswegen war es mir von Anfang an wichtig, bei der Karrierewahl realistisch zu bleiben.» Arnold hat in Leipzig Amerikanistik studiert. «Ich habe einen starken Fokus auf gute Bildung gelegt, um auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen zu haben.»

Durch vokale Tics hat Arnold zudem Probleme mit dem Kehlkopf. «Ich habe Echolalie. Als sich ein Vogel vor meinem Fenster eingenistet hat, habe ich den Tic bekommen, das Pfeifen nachzuahmen. Das war ganz schön nervig.» Darum gehe sie auch nicht zu Selbsthilfetreffen, sagt sie: «Ich will nicht die Tics von anderen Erkrankten übernehmen.»

Individuelle Therapie für mehr Kontrolle

Eine Heilung ist derzeit nicht möglich, eine Reduzierung der Symptomatik jedoch schon. «Die Behandlung sollte sich immer direkt am Betroffenen und seinen Bedürfnissen ausrichten», sagt Prof. Ulrich Voderholzer von der Fachgesellschaft DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde).

«Durch eine Verhaltenstherapie können die Betroffenen lernen, ihre motorischen und vokalen Tics zu kontrollieren», erklärt Voderholzer. Meist verschwinden die Tics dadurch nicht, aber Betroffenen könnten besser damit umgehen. Eine medikamentöse Therapie dagegen messe sich oft am Schweregrad der Erkrankung und dem Leidensdruck des Einzelnen.

Fotocredits: Alexander Prautzsch,Alexander Prautzsch,Alexander Prautzsch,Vicent Barth,Schön Klinik Roseneck,Alexander Prautzsch
(dpa/tmn)

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