Hamm – In Baden-Württemberg bekam eine Familie am eigenen Leib zu spüren, was Passivtrinken bedeutet. Der angetrunkene Vater baut an Pfingsten einen Unfall und flüchtet. Frau und Kind lässt er verletzt zurück.
Zigtausende Menschen leiden jedes Jahr als Passivtrinker unter den Folgen von Alkoholmissbrauch anderer, sei es als Unbeteiligter, der von betrunkenen Fußballfans angepöbelt wird, als Ungeborenes im Bauch trinkender Schwangerer oder als Kind von Alkoholikern.
«Kinder, die mit alkoholkranken Eltern leben, können der Situation kaum entkommen», sagt Raphael Gaßmann von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) in Hamm. In solchen Familien komme es überdurchschnittlich oft zu Missbrauch und Gewalt. Ein bis zwei Millionen Kinder wachsen nach DHS-Angaben in Familien mit Alkoholproblemen auf und sind in ihrer Entwicklung gefährdet.
«Unsicherheit, Unberechenbarkeit und Angst hinterlassen Spuren bei diesen Kindern», sagt Gaßmann. Die Chance sei groß, dass sie später selbst suchtkrank werden und psychische Störungen entwickeln. Jede fünfte bis sechste Schwangere trinke außerdem zumindest gelegentlich Alkohol und setze damit die Gesundheit des Kindes aufs Spiel.
Die DHS sieht den Begriff Passivtrinken als Pendant zum Passivrauchen als gerechtfertigt an, auch wenn sich gesundheitliche Folgen oft nicht auf den Wirkstoff Alkohol im Körper beziehen. «Passiv von Alkoholkonsum Betroffene finden sich in nahezu allen Lebensbereichen wieder», sagt Gaßmann. Es sind Beifahrer von Betrunkenen, Unfallopfer, deren Angehörige und Retter, Mitfahrer in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Kollegen.
Tausende Menschen werden Opfer von Straftaten und Unfällen, die unter Alkoholeinfluss passieren. 2015 starben 256 Menschen auf der Straße, fast 17 000 wurden verletzt, weil Fahrer zu viel getrunken hatten.
«Wenn jemand in der Stadt totgefahren wird, sind eine Menge Leute dabei, die das erleben», sagt Gaßmann. «Die werden ja auch schon traumatisiert. Die haben auf jeden Fall einen ganz bösen Tag.» Das gleiche gelte für diejenigen, die am Wochenende in Regionalzügen sitzen, und auf betrunkene Fußballfans treffen. «Die können sich dann überlegen: Kotzt hier gleich einer auf den Sitz oder geht hier eine Schlägerei los?»
«Das Bewusstsein, durch Alkoholkonsum auch andere Menschen zu schädigen, die selbst nicht trinken, ist andernorts vorhanden, in Deutschland offenbar nicht», meint der DHS-Geschäftsführer. Bei uns gebe es zum Beispiel immer noch Alkohol an Tankstellen zu kaufen.
In Baden-Württemberg habe ein Versuch gezeigt, dass beim nächtlichen Verkaufsverbot die Kleinkriminalität in der Umgebung gesunken sei. Die DHS fordert nicht nur das Verkaufsverbot in Tankstellen. Es solle auch höhere Steuern auf Alkohol geben. Zudem solle auf Werbung verzichtet, der Zugang konsequent auf 18 Jahre erweitert und der Verkauf außerhalb von Gaststätten nachts verboten werden.
Der
Pro-Kopf-Konsum lag in Deutschland 2015 laut DHS bei 135,5 Litern alkoholischen Getränken, etwa eine Badewanne voll. Umgerechnet seien das 9,6 Liter reiner Alkohol. Männer trinken durchschnittlich mehr als Frauen.
Fotocredits: Alexander Heinl
(dpa)