Berlin – Angesichts explodierender Kosten sollen neue Krebsmedikamente nach dem Willen des führenden Gremiums im Gesundheitswesen künftig schärfer überprüft werden.
Die Mittel brächten den Patienten oft nur einige Monate mehr Lebenszeit, hätten aber oft starke Nebenwirkungen und seien extrem teuer, sagte der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Josef Hecken. Auch der
Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassenforderte die Politik auf, Lücken bei der
Bewertung des Mehrwerts der Mittel für die Patienten zu schließen.
Vergangenes Jahr stiegen die Kosten der Kassen im Arzneibereich um mehr als 3 Prozent auf 38,5 Milliarden Euro. Im Bundesausschuss entscheiden die Spitzenorganisationen der Kassen, Ärzte und Kliniken über die medizinische Versorgung in Deutschland. Anhand wissenschaftlicher Studien bewertet das Gremium seit 2011, inwiefern neue Arzneimittel mehr nutzen als ältere. In seiner letzten Sitzung des Jahres am 21. Dezember fallen die nächsten Beschlüsse zu einzelnen Mittel. Die Bewertung ist Basis von Preisverhandlungen zwischen Kassen und Herstellern.
«Nach wie vor werden Onkologika überdurchschnittlich gut bewertet», sagte Hecken. Nur jedem fünften der 88 insgesamt bewerteten Krebsmittel sei kein Zusatznutzen beschieden worden. «Aber: Die meisten dieser Therapien bringen den Patienten lediglich ein längeres Leben von im Schnitt drei bis sechs Monaten», so Hecken. Mehr Lebensqualität gebe es selten. Viele Mittel kombinierten Chemotherapien – Nebenwirkungen stiegen so oft dramatisch an.
Oft handele es sich um biologische Arzneimittel, die gezielt am Tumor ansetzen, aber extrem teuer seien. «Die Jahrestherapiekosten betragen zu Beginn im Schnitt 100 000 Euro mit steigender Tendenz, noch ausgeprägter ist die Kostensteigerung bei den jetzt häufigen Kombinationstherapien.» So stiegen die Arzneikosten bei Hautkrebs mit Metastasen auf rund 200 000 Euro pro Patient und Jahr.
Johann-Magnus von Stackelberg, Vizechef des Kassen-Spitzenverbands, kritisierte zudem: «Insbesondere Arzneimittel gegen Krebs werden immer öfter ohne finale klinische Prüfungen zugelassen.» Hersteller müssten eigentlich aussagekräftige Daten zum Nutzen-Risiko-Verhältnis nachliefern. «Die Praxiserfahrungen sind leider andere.»
Hecken verlangte gleich mehrere Verschärfungen: «In Zukunft müssen neue Wirkstoffe schlechter bewertet werden, wenn keine Angaben zur Lebensqualität vorliegen.» Preisverhandlungen sollten zudem für ähnliche Medikamente zur Behandlung einer Erkrankung ermöglicht werden – statt wie heute nur für einzelne Mittel. Sonst solle es pauschale Abschläge für alle beteiligten Hersteller geben.
Der Pharmaverband vfa betont den Wert
«innovativer Onkologika». Sie seien hochwirksam. Unnötige Therapien und Therapieabbrüche würden vermieden. Eingesetzt würden sie nur, «wo es keine Behandlungsalternative gibt oder wo sie aufgrund ihrer besseren Wirksamkeit im Vergleich zu bestehenden Therapien sinnvoll sind».
Gerade bei biologischen Arzneimitteln forderte Hecken aber «bessere Einspareffekte». Für diese mit Gentechnik in lebenden Zellen hergestellten Biologika gibt es oft günstigere Nachfolge-Präparate, sogenannte Biosimilars. Ihr Preisabstand zum Original betrage heute höchstens 20 Prozent. Er solle auf bis zu 40 Prozent wachsen. Ärzte würden zudem zu oft lieber beim teuren Original bleiben, obwohl ein Biosimilar ebenso wirke. Die Arzneimittelkommission der Ärzte hatte dies kürzlich mit «Desinformation auf Fachkongressen» begründet.
Zu wenig Klarheit über den Mehrwert gibt es laut Hecken und Stackelberg auch bei Mitteln gegen seltene Krankheiten, sogenannten Orphan Drugs. Um auch solche Mittel schnell an die Patienten zu bringen, gilt ein Zusatznutzen bis zu einem Umsatz von 50 Millionen Euro auch ohne die sonst übliche Prüfung als belegt. «Für Arzt und Patient birgt das die Gefahr einer Fehlinformation», sagte Stackelberg. Sie wüssten nicht, ob die Mittel mehr brächten. Das solle sich ändern. Hecken forderte «strengere Bewertungsstufen».
Am 21. Dezember will der Bundesausschuss etwa über ein solches Mittel mit Kosten von rund 750 000 Euro pro Patient und Jahr entscheiden. Es handelt sich um das Mittel Brineura gegen Kinderdemenz, bei der kleine Kinder ihre Sehkraft, dann ihre kognitiven und motorische Fähigkeiten verlieren und oft im Grundschulalter sterben.
Preisbremse bei Arzneimitteln
Das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) hat ein wesentliches Ziel erreicht. «Die Kostenersparnis über das AMNOG beträgt derzeit 1,8 Milliarden Euro im Jahr mit stark aufwachsender Tendenz», sagt der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Josef Hecken. Das Gremium bewertet nach den Regeln des Gesetzes neue Medikamente – nur was wirklich mehr bringt, soll auch mehr kosten. Dafür sollen – entsprechend der Bewertung – Preisverhandlungen zwischen Kassen und Hersteller sorgen.
Der Spareffekt lag 2016 noch bei 1,3 Milliarden, 2018 sollen es über 2 Milliarden Euro sein. 243 neue Wirkstoffe seien bewertet worden – bei satten 44 Prozent dieser neuen Medikamente ging der Daumen runter. Sie erhielten die Bewertung: kein Zusatznutzen. Schlechtere Versorgung werde nicht mehr befürchtet, sagt Hecken.
Beim Kassen-Spitzenverband wertet man das AMNOG als «echte Zeitenwende». Vorbei seien die Zeiten, in denen die Industrie hohe Erlöse erzielt habe, egal ob neue Mittel mehr brächten, sagt Vize-Chef Johann-Magnus von Stackelberg. Doch aus Kassensicht gibt es Schwachstellen.
So könnten die Hersteller ein Jahr den Preis selbst bestimmen, bevor die ausgehandelten Preise greifen. «Diese Regelungslücke ist doch geradezu eine Einladung an die Hersteller, im ersten Jahr überzogen zu kalkulieren», sagt Stackelberg. Um «Mondpreise» einzufangen, müsse der verhandelte Preis rückwirkend ab dem ersten Tag der Zulassung gelten.
Nötig sei zudem ein Arztinformationssystem – Ärzte sollten so besser industrieunabhängige Informationen über den zusätzlichen Nutzen von Arzneimitteln und deren Preise erhalten. Die bisher beim Bundesausschuss vorhandenen Informationen müssten im Praxisalltag ankommen. «Wenn Ärzte wissen, ob ein neues Arzneimittel einen Zusatznutzen hat, wie groß dieser ist und welche Patientengruppen davon profitieren, können sie kranke Menschen auch besser versorgen.»
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(dpa)